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Toute vue des choses qui n’est pas étrange est fausse.




Das Schillersche “Das Leben ist schön”, das immer schon Papiermaché war, ist zur Idiotie geworden, seitdem es im Einverständnis mit der omnipräsenten Reklame ausposaunt wird, zu deren Fanalen auch die Psychoanalyse, ihrer besseren Möglichkeiten zum Trotz, Scheite herbeiträgt. Wie die Leute durchweg zu wenig Hemmungen haben und nicht zu viele, ohne doch darum um ein Gran gesünder zu sein, so müßte eine kathartische Methode, die nicht an der gelungenen Anpassung und dem ökonomischen Erfolg ihr Maß findet, darauf ausgehen, die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu bringen und ihnen die Scheinbefriedigungen zu nehmen, kraft derer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhält, wie wenn sie sie nicht von außen bereits fest genug in der Gewalt hätte. Erst in dem Überdruß am falschen Genuß, dem Widerwillen gegens Angebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit des Glücks, selbst wo es noch eines ist, geschweige denn dort, wo man es durch die Aufgabe des vermeintlich krankhaften Widerstands gegen sein positives Surrogat erkauft, würde der Gedanke von dem aufgehen, was man erfahren könnte. Die Ermahnung zur happiness, in der der wissenschaftlich lebemännische Sanatoriumsdirektor mit den nervösen Propagandachefs der Vergnügungsindustrie übereinstimmt, trägt die Züge des wütenden Vaters, der die Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die Treppe hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch aus dem Geschäft nach Hause kommt. Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzenschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit.


Unter allen Geisteskrankheiten, welche „der Mensch in seinem dunklen Drange“ sich systematisch in den Schädel impfte, ist die Gottespest die allerscheuslichste. Wie Alles eine Geschichte hat, so ist auch diese Seuche nicht ohne Historie, nur schade, dass es mit der Entwickelung vom Unsinn zum Verstand, wie sie im Allgemeinen aus dem Historismus oft gefolgert wird, bei dieser Art Geschichte ganz gewaltig hapert. Der alte Zeus und sein Doppelgänger, der Jupiter – das waren noch ganz anständige, fidele, wir möchten sagen, gewissermassen aufgeklärte Kerle, verglichen mit den jüngsten Drillingssprossen am Stammbaume der Götterei, welche sich, bei Licht besehen, an Brutalität und Grausamkeit getrost mit Fitzliputzli messen könnten.Wir wollen übrigens mit den pensionirten oder abgesetzten Göttern überhaupt nicht rechten, denn die richten keinen Schaden mehr an. Die noch amtierenden Wolkenschieber und Höllen-Terroristen des Himmels aber wollen wir dafür desto respectloser kritisiren, blamiren und abführen.



Deutschland ist ganz sicher nicht das Beste, was ich erlebt habe. Ich kann es gar nicht abwarten, nach Frankreich zu kommen. Hier kann ich mich nicht wohlfühlen. Überall die verdammte grüne Polizei, die ständig in deiner Nähe rumkurvt und dich wütend anstarrt. Dann die bleichen Frauen – ich liebe sie dunkel und stark. Bleich und unfreundlich ist Deutschland. Graues Essen, graue alte Trench-Coat-Männer, die zum Frühstück Aquavit trinken und in ihren schleimigen, zerlaufenen Eiern rumstochern. Die Toiletten sind vom Feinsten und die Fußböden wunderschön. Kein Wunder, daß das Publikum verzweifelt ein Ventil braucht. Sind kulturell unterdrückt die Kids hier. Man kann ja offensichtlich nichts unternehmen. Es gibt keine Drogen und keinen Sex. Man muß sich nur mal London, Paris oder New York angucken, da wird soviel geboten. Da stehen die Leute unbeteiligt herum, wenn eine Band spielt. Wie könnte es ihnen auch imponieren, wo es doch soviele andere menschliche Vergnügungen auf einer 24 Stunden-Basis gibt. Eine Rock’n’Roll Band bedeutet nur was in Ländern wie Deutschland oder Belgien. Gibt’s hier überhaupt Drogen? Man muß ständig fragen danach. Und wenn man verdammtes Glück hat, findet man einen, der einen kennt, der welche hat. Überall sonst hat jeder selbst welche. Zu gedrückt hier. Jedermann hat Angst. Angst vor der grünen Polizei.


Es handelt sich um das mythische Kollektiv als Lebensgrund, als unreflektiertes Existenzgefühl, seine in uns noch verbliebenen Reste und die sie realisierenden Prozesse. Gegenüber dem aus innneren Besitz sich verwirklichenden Stammesleben der Primitiven, gegenüber dem bildergesättigten Glauben der Asiaten kann es keinem Zweifel unterliegen, daß das, was die denaturierten europäischen Gehirne in ihren Berufsübungen, Interessenverbänden, Sippenzusammenrottungen, Sommerausflügen und sogenannten Festen an Lebensinhalt realisieren, das Platteste an Konvention und Verbrauchtheit darstellt, was die geschichtliche Überlieferung kennt (…). Vor allem fehlt jede systematische Erziehungsarbeit in der Richtung bewußter Vitalsteigerung, weil es ja eben der Epoche überhaupt an wahren Grundsätzen fehlt.
Sonst käme sie darauf, durch den Ausbau visionärer Zustände, etwas durch Meskalin oder Haschisch, der Rasse einen Zustrom von Erkenntnissen und von Geist zu vermitteln, der eine neue schöpferische Periode aus sich entbinden könnte. Oder sie fände die Idee, die Hypnose – heute ausschließlich in den Händen kausalanalytischer, auf Normbegriffe gedrillter Ärzte – nicht weiter allein auf Lebensbejahung im Sinne von Betriebsverwendbarkeit auszurichten, sondern die Freimachung unbewußter, das heißt eindruckslos gewordener Organfunktionen sowie archaischer Mechanismen durch sie zu versuchen – überraschende Erlebnisresultate würden das Ergebnis sein.
Pervitin könnte, statt es Bomberpiloten und Bunkerpionieren einzupumpen, zielbewußt für Zerebraloszillationen in höheren Schulen angesetzt werden. Das klingt wahrscheinlich manchem abwegig, ist aber nur die natürliche Fortführung einer Menschheitsidee. Ob Rhythmus, ob Droge, ob das moderne Autogene Training – es ist das uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglich gewordener Spannungen, solcher zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit und die alte und neue Menschheitserfahrung, über diese Überwindung zu verfügen (…).
Gleichwohl steht der heutige Staat dem völlig fremd gegenüber. Vielmehr gründete er kürzlich eine Rauschgiftbekämpfungszentrale, und seine Biologen fühlen sich auf der Höhe der Zeit. Es würde schwierig sein, ihm zu bedeuten, daß sich diese Zentrale zum Menschheitsproblem verhält wie der Postbote zum Kosmopolitismus. Ferner unterläßt er es nicht, die Möglichkeiten einer Steigerung der menschlichen Höhenfestigkeit für Bergsteiger unter dem Einfluß von Medikamenten in großem Umfang durch beauftragte Physiologen prüfen zu lassen, aber die Möglichkeit einer Steigerung der formal-ästhetischen Funktionen beachtet er nicht. Er pflegt seine Muttermilchsammelstellen (…).
Potente Gehirne aber stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide.
Ein so kleines Organ von dieser Verletzlichkeit, das es fertigbrachte, die Pyramiden und die Gammastrahlen, die Löwen und die Eisberge nicht nur anzugehen, sondern sie zu erzeugen und zu denken, kann man nicht wie ein Vergißmeinnicht mit Grundwasser begießen, Abgestandenes findet es schon genug.
Existenz heißt Nervenexistenz, das heißt Reizbarkeit, Zucht, enormes Tatsachenwissen, Kunst. Leiden heißt am Bewußtsein leiden, nicht an Todesfällen. Arbeiten heißt Steigerung zu geistigen Formen (…).


Die Füße Christi berührt zu haben ist keine Entschuldigung für eine fehlerhafte Interpunktion.
Kann jemand nur in betrunkenem Zustand gut schreiben, sage ich zu ihm: Betrinken Sie sich. Und entgegnet er mir dann, das sei schlecht für seine Leber, frage ich ihn: Was ist Ihre Leber? Sie ist etwas Totes, das lebt, solange Sie leben, und die Gedichte, die Sie schreiben, leben ohne dieses Solange.


Was einer werden kann, das wird er auch. Ein geborener Dichter mag wohl durch die Ungunst der Umstände gehindert werden, auf der Höhe der Zeit zu stehen und nach den dazu unerlässlichen grossen Studien ausgebildete Kunstwerke zu schaffen; aber dichten wird er, er sei Ackerknecht oder so glücklich, am Weimarschen Hofe zu leben. Ein geborener Musiker wird Musik treiben, gleichviel ob auf allen Instrumenten oder nur auf einem Haferrohr. Ein geborener philosophischer Kopf kann sich als Universitätsphilosoph oder als Dorfphilosoph bewähren. Endlich ein geborener Dummerjan, der, was sich sehr wohl damit verträgt, zugleich ein Pfiffikus sein kann, wird, wie wahrscheinlich jeder, der Schulen besucht hat, an manchen Beispielen von Mitschülern sich zu vergegenwärtigen imstande ist, immer ein vernagelter Kopf bleiben, er möge nun zu einem Bürochef einexerziert und dressiert worden sein, oder demselben Chef als Stiefelputzer dienen. (…) Ihr armen Wesen, die Ihr so glücklich leben könntet, wenn Ihr nach eurem Sinne Sprünge machen dürftet, Ihr sollt nach der Pfeife der Schulmeister und Bärenführer tanzen, um Kunststücke zu machen, zu denen Ihr selbst Euch nimmermehr gebrauchen würdet. Und Ihr schlagt nicht endlich einmal dagegen aus, dass man Euch immer anders nimmt, als Ihr Euch geben wollt. Nein, Ihr sprecht Euch die vorgesprochene Frage mechanisch selber vor: »Wozu bin Ich berufen? Was soll Ich?« So braucht Ihr nur zu fragen, um Euch sagen und befehlen zu lassen, was Ihr sollt, euren Beruf Euch vorzeichnen zu lassen, oder auch es Euch selbst nach der Vorschrift des Geistes zu befehlen und aufzuerlegen. Da heisst es denn in Bezug auf den Willen: Ich will, was Ich soll. Ein Mensch ist zu nichts »berufen« und hat keine »Aufgabe«, keine »Bestimmung«, so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen »Beruf« hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu geniessen und zu verzehren, d.h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äussern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äusserung besteht und sie so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde »stille stände«, nicht mehr Leben wäre.
Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich jeder seine Kraft, ohne dies erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergisst, dass, wenn er im Augenblicke des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z.B. Leibeskräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Mutlosigkeit einer Minute, so war dies doch eine minutenlange – Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindlichen Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermisst, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiss sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen, aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des »Anstosses«. Darum nun, weil Kräfte sich stets von selbst werktätig erweisen, wäre das Gebot, sie zu gebrauchen, überflüssig und sinnlos. Seine Kräfte zu gebrauchen ist nicht der Beruf und die Aufgabe des Menschen, sondern es ist seine allezeit wirkliche, vorhandene Tat. Kraft ist nur ein einfacheres Wort für Kraftäusserung. Wie nun diese Rose von vorn herein wahre Rose, diese Nachtigall stets wahre Nachtigall ist, so bin Ich nicht erst wahrer Mensch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Bestimmung nachlebe, sondern Ich bin von Haus »wahrer Mensch«. Mein erstes Lallen ist das Lebenszeichen eines »wahren Menschen«, meine Lebenskämpfe seine Kraftergüsse, mein letzter Atemzug das letzte Kraftaushauchen »des Menschen«. Nicht in der Zukunft, ein Gegenstand der Sehnsucht, liegt der wahre Mensch, sondern daseiend und wirklich liegt er in der Gegenwart. Wie und wer Ich auch sei, freudvoll und leidvoll, ein Kind oder ein Greis, in Zuversicht oder Zweifel, im Schlaf oder im Wachen, Ich bin es, Ich bin der wahre Mensch.


Mancher mag es ja schön finden; aber ich konnte die widerliche Majestät der Alpenlinie nur mit Achselzucken betrachten: zu viel Stifter! Auch die feinen Funken, die ab und zu in den blaugrünen Wänden aufleuchteten, versöhnten mich nicht: gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten (hier steckt man ja wie in einer Tüte!); Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erica; und an der Seite muß der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, daß man in Norddeutschland ist. Ich hob vornehm die Brauen (graue Brauen, wußte ich), und schenkte mir lieber wieder vom Samos ein, ein Gemisch von Öl und Feuer, wie ich selten eines gekostet hatte.
Matinee bei Frau Ederer. Ihre fehlenden Zähne waren durch Elfenbeinstückchen, mangelnde Körperformen durch Schaumgummihügel ersetzt, das Plappermaul mit Karmin umstrichen: wir nickten uns zu; wir kannten uns seit dreißig Jahren.
Ich verstand mich also von selbst. Außerdem war da der Maler, der für sein Bild ‹Weiblicher Akt mit Bruchband und Brille› den letzten Preis erhalten hatte. Dann Fräulein Basse: eine bezaubernde Furchtsamkeit, die sie oftmals und listig zu erzeugen wußte, wenn wir Männer so gelehrt sprachen, verschönerte ihr Gesicht. Zwei Textilkaufleute waren wegen des Gatten da; die Einzigen, aus deren Mündern etwas Vernunftähnliches kam. Und dann eben noch der junge Geologe.
Nun sind Wissenschaftler durchaus eine Sache für sich. Ich persönlich habe mehr als genug vom Umgang mit Schriftstellern; schon da muß man wissen, daß Er in seiner Freizeit hannoversche Staatshandbücher sammelt, und für Sie ihre schwarzweißgelbbraunwas-
weißich getigerte Katze tabu ist (oder Er schwört auf Astrologie, Sie auf Thomas Mann; vita difficilis est). Der hier ließ uns nichts weniger als ruhig auf dem kurz geschorenen Rasen sitzen, sondern fing an mit der Kontinentaldrifttheorie: daß sich Grönland neuerdings schon wieder sechsunddreißig Meter entfernt habe (und Südamerika und Afrika paßten genau ineinander); auch die Alpenauffaltung ginge laufend weiter: nach den neuesten Messungen näherte sich die Zugspitze pro Jahrhundert um diverse Meter der guten Stadt München.
Fräulein Basse schielte entzückend entsetzt zur nächsten Bergwand hinüber: war die nicht schon wieder ein Stückchen näher gekommen?! Die Textilfachleute erörterten verächtlich Kett= und Schußgarne; und Molly Ederer sah mich bittend an: das fehlte gerade noch, daß auch unter ihr alles wackelte und schwamm!
Ich strich als Präambel die Asche von meiner Zigarre, und begann:
»Das war damals, 1946 – also vor fünfundzwanzig Jahren – ich war Dolmetscher beim Polizeipräsidenten in Lüneburg, und Tag und Nacht auf den Beinen. Bald wollte Major Billingham eine Schießübung mit seinen Tommies abhalten; bald hatten DP’s – ‹Displaced Persons›: Polen und dergleichen – einen einsamen Bauernhof überfallen, und ihrem grausamen Hunger ein paar Kühe geschlachtet. Schöne Zeit damals; wir waren alle jung und hager, vorurteilslos und gewetzt.
Der Polizeiinspektor, dem ich zugeteilt war, nahm mich vorsichtshalber auf jede Fahrt mit; und es war eben wieder ein halbes Jahr um: die deutsche Polizei hat nämlich, unter anderen Aufgaben, auch die, termingemäß alle halben Jahre das ‹Vorhandensein› sämtlicher, in ihrem Bezirke befindlichen TP’s zu melden.«
»‹Trigonometrische Punkte›« erklärte angeregt der Geologe: »die Grundmarkierungen unsres geographischen Wissens.« Ich nickte ihm lobend zu, und fuhr träge fort (und kehrte die augenblickliche Landschaft einfach um; ist ja egal):
»An einem windigen und kalten Herbstnachmittag kamen wir in Schwarmstedt an. Der Ortsvorsteher begleitete uns zum Zementstumpen, und hob an zu klagen, wie das Ding so grausam mitten im Fahrweg stünde; erst voriges Frühjahr seien zwei Radbrüche an der Stelle erfolgt: ob man den S-tein denn nicht etwas zur Seite rücken könnte? –
Der Polizeioffizier, alter Soldat und an rasche Entscheidungen gewöhnt, überlegte kurz, und nickte dann vorurteilsfrei mit der Schirmmütze: er hatte das ‹Vorhandensein› zu melden, nichts weiter. Ergo erschienen aus der alrunischen Dämmerung vier schweigsame Niedersachsen mit Spaten; gruben den TP Nr.1577 aus, und versetzten ihn drei Meter nach rechts, an den Wegrand: noch heute wird termingemäß das Vorhandensein des Steines gemeldet. – Seitdem mißtraue ich allen Theorien, wie der vorhin von Ihnen vorgetragenen Wegnerschen!«
Der Geologe schrie auf, händeringend; rief Helmert an, Wilhelm Jordan (oder so ähnlich; ich kenne die geodätischen Gottheiten nicht). Ich schilderte noch überzeugend den Nachtsturm, der sich gleich anschließend erhoben hatte, Wind, Blitz und Donner, als die gefällig=rächenden Werkzeuge des Himmels; trotzdem – die glitschenden Kontinente zogen nicht mehr.
Die Damen lächelten erleichtert; Mollys Knie dankte mir kurz, wie einst im Mai; die Textilfachleute hatten ohnehin nicht auf uns geachtet, sondern waren schon beim Sanforisieren. Nur der Geologe strich sich immer wieder das schüttere Haar rückwärts; dabei war er erst achtundzwanzig! – Ich hob versonnen das Samosglas: Öl und Feuer; wo ist die Zeit hin, da wir noch Kontinente verschoben?!


Der große Kunstgriff kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differential- Rechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden. [A 1]
Kein Fürst wird jemals den Wert eines Mannes durch seine Gunst bestimmen, denn es ist ein Schluß, der nicht auf eine einzige Erfahrung etwa gegründet ist, daß ein Regent meistens ein schlechter Mann ist. Der in Frankreich backt Pasteten und betrügt ehrliche Mädgen, der König von Spanien haut unter Pauken und Trompeten Hasen in Stücken, der letzte König in Polen der Kurfürst von Sachsen war schoß seinem Hofnarren mit dem Blasrohr nach dem Arsch, der Fürst von Löwenstein beklagt bei einem großen Brand nichts als seinen Sattel, der Landgraf von Kassel fährt einer Tänzerin zu Gefallen in der Suite eines Fürsten der nicht viel mehr ist als er und wird durch die erbärmlichsten Leute betrogen, der Herzog von Württemberg ist ein Wahnsinniger, der König von Engelland macht……. Engelländerin P…. ., der Fürst von Weilburg badet sich öffentlich in der Lahn; die meisten übrigen Beherrscher dieser Welt sind Tambours, Fourriers, Jäger. Und dieses sind die Obersten unter den Menschen; wie kann es denn in der Welt nur erträglich hergehen; was helfen die Einleitungen ins Kommerzien-Wesen, die arts de s’enrichir par l’agriculture, die Hausväter, wenn ein Narr der Herr von allen ist, der keine Oberen erkennt als seine Dummheit, seine Caprice, seine Huren und seinen Kammerdiener, o wenn doch die Welt einmal erwachte, und wenn auch drei Millionen am Galgen stürben, so würden doch vielleicht so bis 8o Millionen dadurch glücklich; so sprach einst ein Perückenmacher in Landau auf der Herberge, man hielt ihn aber mit Recht für völlig verrrückt, er wurde ergriffen, und von einem Unteroffizier noch ehe er in Verhaft gebracht wurde mit dem Stock todgeschlagen, der Unteroffizier verlor den Kopf. [A 119]
Es kann ohnstreitig Kreaturen geben, deren Organe so fein sind, daß sie nicht imstande sind durch einen Lichtstrahl durchzugreifen, so wie wir nicht durch einen Stein durchgreifen können, weil unsere Hände eher zerstört werden würden. [A 121]
Aus einer Menge von unordentlichen Strichen bildet man sich leicht eine Gegend, aber aus unordentlichen Tönen keine Musik. [A 141]


An dieser Stelle thut eine grosse Besinnung Noth. Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkömmlichem Urtheil gleichgültigen Dinge erzählt habe; ich schade mir selbst damit, um so mehr, wenn ich grosse Aufgaben zu vertreten bestimmt sei.
Antwort: diese kleinen Dinge Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen. Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitäten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lügen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne schädlicher Naturen heraus alle die Begriffe “Gott”, “Seele”, “Tugend”, “Sünde”, “Jenseits”, “Wahrheit”, “ewiges Leben”… Aber man hat die Grösse der menschlichen Natur, ihre “Göttlichkeit” in ihnen gesucht… Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die “kleinen” Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte… Unsre jetzige Cultur ist im höchsten Grade zweideutig… Der deutsche Kaiser mit dem Papst paktirend, als ob nicht der Papst der Repräsentant der Todfeindschaft gegen das Leben wäre!… Das, was heute gebaut wird, steht in drei Jahren nicht mehr.
- Wenn ich mich darnach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne Gleichen, so habe ich mehr als irgend ein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Grösse.
Vergleiche ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als erste Menschen ehrte, so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich “Ersten” nicht einmal zu den Menschen überhaupt, – sie sind für mich Ausschuss der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachsüchtigen Instinkten: sie sind lauter unheilvolle, im Grunde unheilbare Unmenschen, die am Leben Rache nehmen… Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben. Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir; ich bin selbst in Zeiten schwerer Krankheit nicht krankhaft geworden; umsonst, dass man in meinem Wesen einen Zug von Fanatismus sucht. Man wird mir aus keinem Augenblick meines Lebens irgend eine anmaassliche oder pathetische Haltung nachweisen können. Das Pathos der Attitüde gehört nicht zur Grösse; wer Attitüden überhaupt nöthig hat, ist falsch… Vorsicht vor allen pittoresken Menschen! – Das Leben ist mir leicht geworden, am leichtesten, wenn es das Schwerste von mir verlangte. Wer mich in den siebzig Tagen dieses Herbstes gesehn hat, wo ich, ohne Unterbrechung, lauter Sachen ersten Ranges gemacht habe die kein Mensch mir nachmacht – oder vormacht, mit einer Verantwortlichkeit für alle Jahrtausende nach mir, wird keinen Zug von Spannung an mir wahrgenommen haben, um so mehr eine überströmende Frische und Heiterkeit. Ich ass nie mit angenehmeren Gefühlen, ich schlief nie besser. – Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grösse, eine wesentliche Voraussetzung. Der geringste Zwang, die düstre Miene, irgend ein harter Ton im Halse sind alles Einwände gegen einen Menschen, um wie viel mehr gegen sein Werk!… Man darf keine Nerven haben… Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand, – ich habe immer nur an der “Vielsamkeit” gelitten… In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehn? – Ich habe heute noch die gleiche Leutseligkeit gegen Jedermann, ich bin selbst voller Auszeichnung für die Niedrigsten: in dem Allen ist nicht ein Gran von Hochmuth, von geheimer Verachtung.
Wen ich verachte, der erräth, dass er von mir verachtet wird: ich empöre durch mein blosses Dasein Alles, was schlechtes Blut im Leibe hat… Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen -, sondern es lieben…


Ich war Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum; strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich, was war die Kanonade von der Yser, ohne die kein Tag verging, das Leben schwang in einer Sphäre von Schweigen und Verlorenheit, ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt. Ich denke oft an diese Wochen zurück, sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch.